Das Leben an der Winkelriedstrasse um 1910

Im ersten Buch des Quartiervereins Hirschmatt-Neustadt von 1949 berichtet Wilhelm Anton Rogger über das Leben im neu gebauten Wohnhaus an der Winkelriedstrasse 37. Er war in diesem Haus zur Welt gekommen und erzählt vom Gasanzünder, dem Glaser, dem Kräutermann und dem Gemüsehausierer sowie den Strassenputzern und der Güselfuhr und vielen weiteren Kindheits-Erinnerungen. Die Häuser an der Winkelriedstrasse 35-41 wurden von 1901-1903 erbaut und 1970 abgebrochen.

Wir haben den Text im Dezember 2024 digitalisiert, gekürzt und mit Bildern aus dem Stadtarchiv Luzern ergänzt. Den Originaltext haben wir am Ende des Artikels verlinkt.

Hauschronik Nr. 37 von Wilhelm Anton Rogger 

(Gekürzter Text aus dem Buch «Zur Geschichte des Hirschmatt- und Neustadtquartiers in Luzern» von 1949)

Das Haus war funkelnigelnagelneu, als meine Eltern dareinzogen. Der Storch fand rasch Hausrecht in dieser Baute, denn von den zwölf Parteien, die darin wohnten, waren etliche kinderreich. Meine Gotte war eine der Frauen der Herren Keller, die auch dieses Haus erbaut hatten. Ich habe mir später auf diese Patenschaft nicht wenig eingebildet und verehre die Dame, die heute noch hochbetagt lebt, mit der gebührenden Hochschätzung.

Nummer 37 ist ein typisches Miethaus. Damals, als ich noch klein war, hatte sich das elektrische Licht nur ins Stiegenhaus und auch da nur bis zum ersten Stock gewagt. Auf allen übrigen Treppenpodesten hingen vom Einnachten weg Petrollämpchen, die ein spärliches, aber heimeliges Licht verbreiteten. Vergaß jemand einmal das Heraushängen, dann war es streckenweise stockdunkel im Stiegenhaus, und es gruselte einem beträchtlich, hinauf und hinunterzuhuschen.

Das Haus Winkelriedstrasse 37 kurz vor dem Abbruch im Jahr 1970. Damals war die Nummer 37 das Eckgebäude (heute Nummer 35). Am rechten Bildrand ist das noch heute bestehende Wohnhaus mit dem Cafe Arlecchino zu sehen.
Foto Stadtarchiv Luzern, F2a/STRASSEN/WINKELRIEDSTRASSE 35/37/39:01, Peter A. Meyer, Luzern, 1970.

Das Gebäude Winkelriedstrasse 35/37/39 wie es heute im Dezember 2024 aussieht.
Foto Markus Schulthess, 2024
 

Im vierten Stockwerk wohnte eine kinderlose Frau, bei der ich ein zweites Heim gefunden hatte. Sie konnte unerschöpflich erzählen, auch von Gespenstern und dem Dürst, und in der Sträggelennacht war mir darob jeweils das Begehen der finstern Treppe direkt unheimlich. Das war zur Samichlausenzeit, da jedes Jahr der Schmutzli kam und den Baschi auf dem dritten Boden mitnehmen wollte, was sich zum heilsamen Schrecken unter den Kindern im ganzen Haus herumsprach oder, besser gesagt, ihnen aus direkter Quelle zu Ohren kam, denn der Baschi pflegte jeweils märterlich zu brüllen und das unverzügliche Werden eines neuen Heiligen zu versprechen.

Daneben gab es noch zehn weitere Parteien im Haus, so ein Dienstmann mit ansehnlicher Familie, eine ledige Schneiderin, ein Viehhändler mit einem netten Geschwisterpaar, eine Witwe mit ihrer gemütskranken Tochter, ein Dampfschiffmaschinist und ein Postbürodiener, deren Kinder meine Jugendgespielen wurden, gute Leute, die mir noch heute fern vom alten Quartier wert geblieben sind.

Weiter waren da zwei Postkondukteure, die ehemals mit den Alpenposten über die Pässe fuhren, flotte Männer, die in den blauen Monturen und den Silberschilden auf der linken Brust unsern Respekt herausforderten. Der eine (Zwahlen, der noch heute unter uns weilt) war ebenfalls kinderlos, der andere aber hatte ein Schärlein Buben und Mädchen, von denen besonders das Hanneli mir ans Herz gewachsen war.

Schließlich fand sich da noch ein Reisender und im Erdgeschoß nochmals ein Dampfschiffler. Im ganzen genommen war das alles mehr oder minder eine kleine Schicksalsgemeinschaft, denn zu jenen Zeiten lebte man nicht so unbeteiligt am Geschick der nächsten Hausbewohner vorbei wie in unserer nüchtern und materialistisch empfindenden Welt.

Nummer 37 war ein kurzweiliges Haus. Vornheraus sah man auf die Winkelriedstraße, die in jenen Tagen noch keinen staubfreien Belag, sondern lediglich asphaltierte Gehsteige aufwies. So konnte man von Zeit zu Zeit die ehrsame Gilde der Straßenkehrer sehen, wie sie mit ihrem einige Meter langen Schlauchwägelchen von Hydrant zu Hydrant pürschten, dort den Schlauch ansetzten und mit kräftigem Strahl die bestaubte Straße abspritzten.

Hernach wurde der in den Rinnstein geschwemmte Kot mit breiten, langstieligen Bürsten zu einem Brei zusammengeschoren und schließlich in eine Benne verladen. Es war herrlich, ein wenig in diesen «Pappen» hineinzutrampen, was zwar der Mutter mindern Genuß bereitete, denn es hieß dann etwa, man bringe wieder Schuhe heim wie ein «Dolengraber».

Den Straßenputzern verwandt war die Güselfuhr. Die ging noch geruhsamer vor sich als heutzutage. Von hygienischen Skrupeln wenig beschwert, wurde der Müll aus allen möglichen Behältnissen in eine offene Güselbenne gekippt, und man trollte sich eine Station weiter. Vorn am Wagen befand sich eine scheppernde Schelle, und die wurde von Haus zu Haus, je nach Temperament, gerührt.

Zu den regelmäßigen und auffallenden Straßenpassanten zählten auch der Gasanzünder, der Glaser, der Kräutermann und die Gemüsehausierer. Der Gasanzünder kam pünktlich wie die Uhr mit der Dämmerung, abends zum Entzünden, morgens zum Löschen der Laternen, denn vor dem ersten Krieg wurde die Straßenbeleuchtung, soweit nicht Bogenlampen in Frage kamen, durch Gaslicht besorgt.

Eine Stange geschultert, eilte dieser dienstbare Geist von Leuchter zu Leuchter. Mittels eines Hakens vorn an der Stange und eines kleinen Flämmchens daneben wurden die Lampen entzündet, und es gehört zu einer freundlichen Jugenderinnerung, im traulichen Dämmer nach und nach diese Lichter aufglühen zu sehen.

Der Glaser hingegen war ein Mann des Tages. In einem grünen Kasten trug er huckepack seine Ware auf dem Rücken. «Glaaaaser, Glaaaaser» rufend, wanderte er den Weg seiner Bestimmung. Wo es Scherben gegeben hatte, rief man nach ihm aus dem Fenster, worauf er bereitwillig ins Haus hinaufstieg und an Ort und Stelle, gegen geringen Entgelt, den Schaden behob.

Ein anderer fliegender Händler war das Kräutermandli, das irgendwo in den Hochwäldern hauste und seine heilkräftigen Alpenkräuter mit lauter Stimme straßauf und -ab anzupreisen pflegte. Seine Reklame freilich war nicht immer ganz salonfähig.

An den Vormittagen meldeten sich kurz nacheinander der Milcher und der Seiler Marti. Das war der Gemüsehausierer. Der gute Marti hatte die Leber etwas auf der Sonnseite, was ihn bewog, jeweils mit seiner Eheholden, die ihm das Kramwägelchen stoßen half, das Restaurant «Hirschmatt» aufzusuchen, um beim Rogger Toni dem Übelstand mit entsprechender Bewässerung entgegenzuwirken. Bedauerlicherweise fehlte ihm zuweilen das richtige Augenmaß, was zur Folge hatte, daß er bockbeinig seine Gemahlin einspännig weiterzukutschieren anwies. Begreiflicherweise war diese nicht selber Meinung, was kleinere oder größere Dispute sogar noch auf der Straße nach sich zog, zum Gaudium der schadenfrohen Zuschauer.

Bliebe noch zu erwähnen, daß auch der berühmte Peter Huber, besser bekannt als Güggelipeter, gelegentlich etwa gestikulierend und keifend, den Deckelkorb am Arm, uns mit seiner «Durchreise» beehrte.

Das Haus Winkelriedstrasse in einer Luftaufnahme von 1953. Links davon ist das Lagerhaus Hofer zu sehen (heute Murbacherstrasse 21 und 23).
Foto ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz / LBS_H1-015527, Werner Friedli, 18.08.1953
 

Quer über der Straße westwärts, nördlich angebaut an das Lager des Käsehändlers Bächler (jetzt Lagerhaus Hofer), befand sich eine sonderbare Baute. Sie hatte weder Türe noch Fenster, nur oberhalb eine verschlossene Luke. Das war das Eislager der Brauerei. Dort sah man in strengen Wintern Fuder um Fuder von Eisblöcken zufahren. Die Luke war offen, und die kalte Last verschwand im dunkeln Bauch des Hauses. Sie kam vom zugefrorenen Rotsee, wo man die Blöcke aus der Eisdecke heraussägte. Im Sommer dann wurden sie zum Kühlen des Bieres verwendet. Jetzt gibt es keine Eiser mehr, die Maschine ist an ihre Stelle getreten.

Jedwedes Ding hat gewöhnlich zwei Seiten. Bei einem Miethaus ist im Stadtkern die mindere Seite meist gegen einen sogenannten «Hof» gekehrt. Jener unserer Nummer 37 bot zwar wenig an Schönheit, aber er war dennoch nicht reizlos und immer von Leben erfüllt. Denken wir nur an den guten Beni selig, der im ganzen Hofraum herum von Haus zu Haus gegen einen Fünfer oder eine Schnitte Brot seinen mikrigen «Tenor» erschallen ließ und das schöne Lied «Weißt du, wieviel Sternlein stehen», je nach Stimmung und Gastspielausbeute von sich gab oder andere rhetorische Gaben darbot.

Daneben liess Spenglermeister Schinacher Blech zu Dachkenneln oder noch kunstvollern Gebilden seines Metiers klopfen und biegen. Gegenüber schwang Meister Goldiger den Pinsel und machte aus urgewöhnlichen tannenen Gänterli herrlich glänzende Nußbaumschränke.

Als Dritter vom ehrsamen Handwerk buk Pfister Neukomm seine schmackhaften Wecken und andere anmächelige Süßigkeiten, und wir waren überglücklich, wenn er uns aus Muldenschabeten bisweilen ein Apfelmutschli fabrizierte. In Schinachers Haus hatte er eine kleine Konkurrenz. Da lebten zwei ältere Frauenzimmer, die nach dem «allein echten Rezept» Willisauer Ringli herstellten. Wie das sich gehört, stellten sie die leckern, goldgelben Ringlein, bereits auf die Backbleche festgeklebt, an die frische Luft in den Hof, um sie hernach mit kaltem Wasser zu überspülen und im Herd zu backen. Der bescheidene Ertrag ihrer Kunst verhausierten sie selber.

Schließlich fand sich noch ein Weinlager (jetzt Dönni), und der herbe Duft gutgelagerten Rebenblutes entströmte den offenen Türen, was uns dannzumal freilich noch wenig berührte.

Das Höfli war ein Eldorado für uns Kinder, denn hier war man vor dem Überfahrenwerden sicher. Und was die Großen anbelangt, ist zu sagen, daß sich in der Hofperspektive der Mensch weniger konventionell zu geben pflegt, und manch lustige oder selbst intime Szene gehörte da zum Unterhaltungsstoff der Hausfrauen.

Waren wir Kleinen nicht in dem von den vier Häusermauern eingefriedeten Raum durch irgend etwas «Wichtiges» in Anspruch genommen, dann wechselten wir mit Vorliebe hinüber nach dem Zentralmätteli, das heißt auf den Platz, wo jetzt die Lukaskirche steht, nebenan ins Vögeligärtli oder schließlich auf das alte Gasareal. Dort war überall Luft, Licht und Raum zum Austoben, ja, auf dem Zentralmätteli gastierte einige Zeit sogar jeweils die Budenmesse, wo man sich beim Aufbau des Rößlispiels oder des Kinematographen Leilich nützlich machen konnte, denn ehe man in Häusern Kinos einrichtete, kam diese Erfindung der staunenden Menschheit auf den Rummelplätzen vor Augen.

Das erste ansässige Kino in Luzern eröffneten die Gebrüder Morandini an der Pilatusstraße in jenem Lokal, wo sich jetzt das Wäschereigeschäft Halter befindet. Da stand beim Eingang in einem Vorraum, der Kasse gegenüber ein Orchestrion, das mit bewunderungswürdiger Ausdauer herrliche Weisen von sich zu geben pflegte.

Wir Winkelriedsträßler Abeceschützen, die ins alte Spital auf die Schiefertafeluniversität gingen, ergötzten uns manches Mal ungebührlich lange an der Musik und den herrlich-bunten Helgen, die für die Filme von Max Linder und Konsorten warben.

Ein besonderes Kapitel wäre den Düften zu widmen, die unsere Klause umwehten. Besonders das Höfli erwies sich als überaus abwechslungsreich in der «Erquickung» unserer Nasen. Da wären einmal, in einer Hausecke deponiert, Meister Schinachers Pechfässer zu nennen, die einen schalen, weitreichenden Geruch verbreiteten und deren aus den Fugen dringenden schwarzen Tränen wir zu des Besitzers Verdruß, zwecks allerlei Allotria, abklaubten.

Gegenüber entströmte der Backstube der Pfisterei Neukomm (jetzt Krell) in warmen Schwaden der Duft frisch gebackenen Brotes und vermählte sich mit jenem von Leinöl und Terpentin aus Goldigers Malerbude.

Schließlich gesellte sich dazu noch der nüchtelnde Fass und Korkzapfengeruch aus dem Weinkeller, so daß wir uns über die Abwechslung wahrlich nicht zu beklagen hatten, ganz besonders nicht um die Essenszeit, wenn auch noch die dünstenden Zeugen verschiedenster Kochkünste zum Himmel stiegen.

Vorn heraus waren die Verhältnisse wieder anders. Wenn Meister Bächler, der Käsehändler, die Tore seiner Schatzkammer öffnete, dann entwichen ihr Gerüchlein, die lebhaft an ein nächtliches Kantonnement nach einem sommerlichen Gewaltmarsch erinnerten.

Über der Straße vor unserer Nummer 37 und entlang der Murbacherstraße zog sich das langgestreckte Lagerhaus der Großfirma Hofer hin. Auch da gab es Verschiedenes zu riechen, ganz allgemein das charakteristische Parfüm gelagerter Kolonialwaren und im besondern wöchentlich zweimal den durchdringenden Duft röstenden Kaffees, denn das Geschäft hielt von jeher auf einen frisch schmeckenden Reboka reinen Bohnenkaffee.

Das Lagerhaus Hofer an der Murbacaherstrasse 21 und 23. Im Vordergrund die Baustelle des Hauses Murbacherstrasse 25.
Stadtarchiv Luzern, F2a/STRASSEN/MURBACHERSTRASSE 25:02, Foto Friebel, Sursee, 1935
 

A propos Hofersches Lagerhaus gegen unsere Kaserne hin war dieses mit einem eisernen Staketenzaun eingefriedet, wie heute noch. Von da bis zu unserem und Schinachers Haus zog sich so etwas wie ein Streifen Niemandsland von der Winkelried zur Hirschmattstraße hinüber. Auf diesem Stück halb steinigen, halb Grasboden, dem Hag entlang vom Trottoir der Winkelriedstraße bis zu Schinachers grünem Gartenbänkli hatte Vater Bösch, Kellers Fuhrmann, seine Wagenburg aufgestellt, schön hintereinander in Reih und Glied, Bennen und Brückenwagen, von den aufgebürdeten Lasten mitgenommen, aber fest und stark, wie sie ein Baugeschäft vor dem Zeitalter der Benzinschlepper in Menge brauchte, um Aushub und Bausteine zu befördern.

Die Wagen wurden immer mit zwei Pferden bespannt, und man sagt noch heute, daß der tierliebende Vater Bösch schwerste Lasten, ohne die Pferde zu schlagen, fortzubringen vermochte.

Auf dem vorerwähnten grünen Bänklein vor ihrem Hause hielten Papa und Mama Schinacher nach des Tages Müh und Last zuweilen eine Siesta, oder die Geschäftsfrau saß tagsüber da, strickte, bewachte den Laden gegenüber und mußte sich ärgern, wenn die Jugend allzusehr auf der Wagenburg herumtollte.

Hart an der westlichen Giebelseite des Lagerhauses Hofer, an der Ecke gegen die Metzgerei Sidler, stand früher ein eiserner Telephonmast mit einem Verteilkasten im Fuß, in dem aberhundert glitzernde Sicherungsröhrchen die Aufmerksamkeit von uns Buben fesselte. Dannzumal gingen die Anschlüsse noch als Freileitungen in die Häuser, und die sirrenden Drähte trugen Freud und Leid, Klatsch und ernsthafte Gespräche nach allen Richtungen durch den Äther.

Seither mußte dieser Mast dem Fortschritt weichen, das unschöne Drahtgewirr ist aus der Luft verschwunden, und der beredte Alltag nimmt unterirdisch seinen Gang. Doch kehren wir zurück zu unserer Nummer 37.

Dieses Haus war der Mittelpunkt meines jungen Lebens. Von ihm aus pilgerte ich zur Frau Brunner, die an der Winkelriedstraße Nr. 24 ein kleines Gemüselädeli führte; ich kehrte im Konsum bei Frau Mörker ein, die damals noch in den Räumen der Firma Suter, Früchtegeschäft, wirkte, und wechselte schließlich hinüber zu Metzgermeister Alfred Sidler (jetzt Maurer), bei dessen Ladenjungfer Marie dann gewöhnlich ein Wursträdelein als Trägerlöhnli abfiel.

Den letzten Halt bei solchen Kommissionengängen machte ich gewöhnlich bei Elektriker Frey, der Metzgerei gegenüber, wo links der Haustüre in einem schmalen Schaufenster jahrein und -aus, ein kleiner Marronibrater in Schnee und Eis neben seinem Öfelein, in dem ein rotes Glühbirnchen brannte, erbarmungswürdig fror.

Daneben an der Wand stand in ungelenken Buchstaben «Aissi Marroni». Das Ganze, ein prächtiges Gebilde aus Gips vielleicht weiß Mama Frey auch noch davon hatte es mir angetan, und ich bemitleidete den armen Marronibrater von Herzen.

Ein ähnlicher Anziehungspunkt in entgegengesetzter Richtung, gerade übers Kreuz, bildete Apotheker Eschles Schaufenster an der Hirschmattstraße, wo bisweilen allerhand Landschaften aufgebaut waren und es von winzig kleinen Männlein und Weiblein wimmelte.

Ich bedauerte es unendlich, als Eschle nach Basel zog, um dort eine chemische Fabrik zu betreiben, denn fortan gab es keine so unterhaltsame Schaufensterauslagen mehr.

Ausnahmsweise durfte ich vielleicht an einem besondern Feiertag auch zu Bäck Tanner an der Ecke Murbacherstraße/Kauffmannweg gehen, wo sich jetzt das Theresiaheim befindet, um einige Wegglein zu holen. Das war dann schon mehr als etwas Gewöhnliches, denn bei uns mußte mit dem Rappen gerechnet werden.

Mein Vater verdiente als gelernter Mechaniker 140 Franken im Monat. Der Mietpreis für unsere Mansarde betrug schon damals 450 Franken, so daß im Monat rund hundert Franken für den Unterhalt unserer vierköpfigen Familie blieben. Damit konnte man auch zu jenen Zeiten noch, da das Geld eine weit bessere Kaufkraft aufwies als heute, keine großen Sprünge machen, wenn man sich rechtschaffen und ohne fremde Hilfe durchzubringen begehrte.

Das wollte auch mein guter Vater, er war häuslich und opferte manch ewige Nacht, um für mich mit reicher Phantasie und geschickter Hand Dinge zu verfertigen, die mein Bubenherz erfreuten und die Rechnung des Christkindleins entlasteten.

Weit nach Mitternacht kroch er dann noch schnell ins Bett, und es bedurfte von meiner Seite eines frommen kleinen Betrugs «gar nichts gemerkt zu haben».

Seiner und meiner selbstlosen lieben Mutter Fürsorge verdanke ich eine unbeschwerte, schöne Jugend, die mir die Mansarde an der Winkelriedstraße zum Palaste machte, und das werde ich beiden zeitlebens nie vergessen.

Von diesem Heime aus gewann ich auch den ersten Kontakt mit der «großen Welt» das heisst ich ging in den Kindergarten. Der Weg führte mich die Winkelriedstraße hinunter, an der Ryffelschen Schießhalle (jetzt Stadthaus) vorbei, den Hirschengraben entlang, zwischen Krienbachschulhaus und der Buchdruckerei Schill (Burgertor) hindurch, quer über den Rest der alten Bruchklostermatte (es gab damals noch keinen Hirzenhof und angebaute Häuser), an der alten Klosterscheune vorüber zur Gibraltarstraße, wo sich die kindliche Schwester Honora unser annahm und so nett mit uns zu spielen wußte.

Im Frühling und Herbst waren dann auf diesen Wegen, das heißt genau gesagt ungefähr vom Hotel «Rütli» bis zur efeu und reblaubumsponnenen Villa Arnold am Pilatusplatz, an der Stelle wo jetzt das «Volkshaus» steht, die Meßstände aufgestellt. Beim Krienbachschulhaus wurden die «Chacheli» feilgeboten, und in der Nähe betrieb der unsterbliche billige Jakob sein redeseliges Gewerbe.

Begreiflicherweise waren all diese Attraktionen nicht dazu angetan, unsere Heimkehr zu beschleunigen. Das gleiche war zu sagen von den Dienstagmärkten. Am untern Hirschengraben wurden die Kühe und Kälber, vor dem alten Spital die Säuli feilgehalten. Dort standen in langen Reihen die Güfiwägelchen mit den rosigen Grunzern drin, und diese verführten zuweilen ein Geschrei ärger als ein exotisches Parlament.

Nach dem quasi Probegalopp mit dem Kindergarten kam ich, wie schon erwähnt, in die «rechte Schule», ins alte Spital, zu dem neugebackenen Lehrer Siegfried, einem ausgezeichneten Pädagogen.

In diese Zeit fallen auch jene Naturereignisse und Vorkommnisse, deren ich mich noch deutlich erinnere. Es fiel ein großer Schnee im Maien, und die belaubten Bäume auf dem Schulweg an der Pilatusstraße wurden manchenorts von der ungewohnten Last zerrissen oder verloren große Astpartien, ja, ein hier gastierender Zirkus wurde von dem schwernassen Niederschlag gar eingedrückt.

Ein anderes Ereignis beunruhigte abergläubische Menschen. Am Himmel erschien der sogenannte Halleysche Komet, dessen Sternbild mit dem langen Schweif ich schlotternd im Hemdchen mitten in der Nacht einmal ehrfürchtig bestaunte.

Dann erdbebnete es einmal empfindlich, und mein Eisenbett auf Rädchen fuhr im Schlafzimmer herum. Unsere kleine Welt wackelte bedenklich, denn die Schwingung wächst bekanntlich mit der Höhe.

Eines Nachts gab es eine schreckliche Explosion im Höfli. Das Dach des Schinacherschen Hauses wurde abgedeckt, und die zerborstenen Ziegel prasselten auf unser benachbartes Haus hernieder. Jemand war im Dachstock des Unglücksgebäudes mit offenem Licht in die Küche getreten, wo dem unverschlossenen Hahn Gas entströmte. Ein füchterlicher «Klapf» war die Folge. Drei Tote mußten geborgen werden, eine Mutter mit zwei Töchtern!

Schließlich brannte die alte Nähmaschinenfabrik in der Tribschen auf den Grund nieder, und die Museggtürme am entgegengesetzten Ende der Stadt, die wir von der Stube aus bequem sehen konnten, waren von der Brandröte wie bengalisch beleuchtet.

Die Aufzählung sei mit einem freundlicheren Bild abgeschlossen. Die ganze «Besatzung» unserer Nummer 37 war auf der Dachzinne versammelt, als der Zeppelin, diese silberne Zigarre, erstmals über Luzern erschien und uns den Anbruch eines neuen Zeitalters verkündete.

Zeppelin «Astra» über der Luftschiffhalle im Tribschenmoos Luzern.
Foto Stadtarchiv Luzern, F2a/VERKEHR/22:01, 1910
 

Dolfi, der Erzschlingel des Hauses, saß zuoberst auf dem Kamin, das unser Gebäude noch um mindestens drei Meter überragte. Luzern hat damals klug und hellsichtig seine Chance wahrgenommen und stadtwärts der Tribschenkrete eine imposante Luftschiffhalle erstellt, von wo die Luftschiffe «Parseval» und «Astra» und damalige Äroplanmodelle ihre Gastflüge über der Stadt und der innern Schweiz vollführten bis der erste Weltkrieg diese Pionierarbeit Luzerns zuschanden machte.

Und heute?... fehlt der Stadt ein Lufthafen selbst sekundärer Klasse, schuld eines stimmbürgerlichen Fehlurteils in einem entscheidenden Augenblick.

Für mich schlug bald hernach die Stunde, da von den altvertrauten Räumen, Haus und Leuten geschieden werden mußte. Mein erblindeter Großvater siedelte zu uns über. Für ihn war das viele Treppensteigen zu beschwerlich, und zudem mangelte uns der Platz. Wir mußten daher ein anderes Unterkommen suchen, und so schied ich als Zehnjähriger aus dem liebgewonnenen Quartier, in das ich hineingeboren worden war.

Häuser haben ihre Geschichte, aber es ist nicht die tote Materie, — die sie schreibt, sondern der Geist, der in ihnen webt und wirkt. Man behaupte nicht, Mietkasernen hätten keine Romantik, man muß nur Augen dafür haben und ein Herz, dankbar zu nehmen, was sie bieten. Für mich bleiben Haus und Winkelriedstraße zeitlebens ein Hort freundlicher Jugenderinnerungen.

Wenn der drehbare Kaminhut in Sturmesnächten über der Nummer 37 klagend ächzte, dann fühlte ich mich wohlgeborgen unter dem Dache unseres Heims. Gibt es eine schönere Auszeichnung für eine Wohnstatt?

Die Winkelriedstraße zählt über 60 Häuser, mehr oder minder, je nachdem, wie jedwede andere Straße. Aber jedes Haus hat sein Gesicht, ein noch freundlicheres vielleicht oder weniger schönes als die Nummer 37. Zum Lobe aller, weit und breit, habe ich dankbar aufgeschrieben, was ich von dem einen eben meinem Geburtshaus weiß, und das gehört zu seiner Geschichte, die gut und menschenfreundlich klingt.

Wilhelm Anton Rogger, 1949
Text aus dem Buch «Zur Geschichte des Hirschmatt- und Neustadtquartiers in Luzern» von 1949
Ungekürzter Originaltext (PDF)